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Gefunden, gefälscht, kopiert

Der Gleisarbeiter staunte wohl nicht schlecht, als er etwas Goldenes im Boden entdeckte. «Das muss eine Stange Geld wert sein», dachte er bei sich, den Becher in Händen. Geistesgegenwärtig und verschlagen verbarg er anscheinend daraufhin die Kostbarkeit und arbeitete weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Zu dumm nur, dass er später von seinem Fund prahlte, vielleicht bei einem Feierabendbier. Und so kam die Geschichte über den Goldbecher von Eschenz ins Laufen.


Der Goldbecher ist das mit Abstand wertvollste Stück im Museum für Archäologie Thurgau.

Billige Kopie statt unbezahlbares Original

Was der Mann 1906 beim Bahnhof Eschenz gefunden hat, ist eines der ältesten Goldgefässe Europas. Der 136 Gramm schwere «Goldbecher von Eschenz», wie man ihn heute nennt, stammt aus der  Jungsteinzeit oder der beginnenden Bronzezeit und wird von Urs Leuzinger, Archäologe und Leiter des Museums für Archäologie Thurgau in Frauenfeld, auf die Zeit um 2400 vor Christus geschätzt. Da keine weiteren Funde aus dem Umfeld des Fundes erhalten blieben, ist eine genaue Altersbestimmung nicht möglich. Nur organische Stoffe lassen sich mit der Kohlenstoffanalyse datieren, Metalle nicht. Der Goldbecher ist das mit Abstand wertvollste Stück im Museum – in ganz Europa gibt es nur vier bis fünf ähnliche Funde.

Aber zurück zu unserem redseligen Gleisarbeiter. Nachdem die Kunde vom Goldfund die Runde gemacht hatte, musste er den Goldbecher seinem Vorarbeiter ausliefern. Doch anstelle des Originals händigte er ihm eine billige Kopie aus Messing aus, die ein Kollege gefertigt hatte. Über die Kreisdirektion IV der SBB gelangte der Messingbecher zum Landesmuseum, wo die Fälschung in einer Schublade mit der Aufschrift «Diverses und Dubiosa» landete und wohl noch heute in irgendeinem Archiv lagert. Das Original aber blieb verschollen.

Eine Kostbarkeit für ein Abendessen

Jahrzehntelang hatte man nichts mehr vom «Goldbecher von Eschenz» gehört, als er unerwartet 1974 wieder auftauchte. Er war im Besitz eines Arztes namens Otto Schirmer, der ihn dem Kanton Thurgau schenken wollte. Sein Vater hatte den Becher wohl damals vom Finder erworben und in seine Privatsammlung aufgenommen.

Otto Schirmer stellte eine einzige Bedingung für die Schenkung des unbezahlbaren Bechers: Der Regierungsrat des Kantons müsse ihn zu einem Abendessen einladen. Die Magistraten wollten erst nicht darauf eingehen, liessen sich dann aber doch auf den Handel ein. Und so kam der «Goldbecher von Eschenz» endlich in den Besitz des Kantons und wird heute im Museum für Archäologie ausgestellt. Wenigstens die meiste Zeit.


Für ein Abendessen mit dem Regierungsrat überliess Otto Schirmer dem Kanton den Becher.

Becher in illustrer Runde

Noch bis zum 9. Januar 2022 ist der Goldbecher von Eschenz in der Ausstellung «Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte» im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale (Sachsen-Anhalt) zu sehen. Es ist die wohl grösste Ansammlung frühzeitlicher europäischer Goldfunde, die jemals gezeigt wurde. Den Mittelpunkt bildet die weltberühmte «Himmelsscheibe von Nebra». Dass der Thurgauer Becher vom Bahnhof in dieser Ausstellung gezeigt wird, zeigt, wie bedeutend er ist.

Und in Frauenfeld? Steht in der Zwischenzeit – nein, keine Fälschung, eine Kopie. Die ist vergoldet und wenige Jahre alt, aber vom Original kaum zu unterscheiden. Und Urs Leuzinger freut sich, diesen Becher bei Führungen auch mal aus der Vitrine nehmen und herumzeigen zu können.