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Victoria und die Ittinger Reliquien

Schon im frühen Christentum wurden Reliquien verehrt und Kirchen auf den Gräbern von Märtyrern errichtet. Für die frommgläubigen Menschen im Spätmittelalter waren die Überreste von Heiligen und Opfern der Christenverfolgung enorm wichtig. Auch in der Kartause Ittingen befanden sich einige dieser Reliquien. Neben Bildern und Skulpturen wurden beim Ittinger Bildersturm 1524 auch die Reliquiare zerstört oder verschwanden. Diese konnten erst viel später ersetzt werden. Beispielsweise durch eines der spektakulärsten Stücke im Ittinger Museum: das Reliquiar der Katakombenheiligen Victoria.


Eines der spektakulärsten Stücke im Ittinger Museum

Durch Zwinglis Reformation wurde in vielen umliegenden Gemeinden der Umgebung ein Bildersturm ausgelöst, so beispielsweise auch in Stammheim – was den Prior der nahe gelegenen Kartause Ittingen zur unvorsichtigen Bemerkung hinriss, er würde sich nicht wundern, wenn Gott die Häuser der Aufständischen verbrennen liesse. In Brand gesetzt wurde daraufhin aber die Kartause selbst – von einer wütenden Bauernhorde. Der Prior und fast alle Mönche verliessen die Kartause, der Wiederaufbau sollte 30 Jahre in Anspruch nehmen. An die Beschaffung von Reliquien war in dieser Zeit nicht zu denken, die Kartause verfügte nicht über die Geldmittel und die Mönche lebten in Armut.

Erst mit dem Weingrosshandel begann der Aufstieg zum reichsten Kloster im Thurgau. Die Kartause erarbeitete sich ein grosses Know-how in der Lagerung von Weinen, wodurch man auch in schlechten Jahren guten Wein verkaufte und sich so einen Namen machte. Ausser Handel, Eigenanbau und Wein, den man als Zehnten erhielt, bildete auch das Kreditgeschäft gegen Traubenernten eine wichtige Einnahmequelle und ermöglichte es der Kartause, neben anderen Kostbarkeiten, auch den Reliquienschatz wieder zu füllen.

Das grosse Reliquien-Reservoir

Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Katakomben in Rom wiederentdeckt. Die weitläufigen, unterirdischen Grabkammern waren in der Antike angelegt worden, um dem grossen Bedarf an Grabstätten zu begegnen. Auch Christen wurden dort bestattet. Römische Historiker wiederum berichteten über grausame Christenverfolgungen – nicht zuletzt, um das Ansehen des beim Volk beliebten, aber bei den Bessergestellten verhassten Nero zu beschädigen. So entstand der Eindruck, viele der Grabnischen in den Katakomben, insbesondere diejenigen mit christlichen Inschriften, würden Märtyrern gehören, welche für ihren Glauben gestorben waren.

Dieses neu erschlossene «Reservoir» traf auf einen grossen Bedarf an Reliquien bei den frommen Menschen, die sich Wunder aus den Überresten erhofften, und bei Kirchen und Klöstern, die dank der Reliquien an Bedeutung und Rang gewannen. Ein lukratives Geschäft mit den römischen Katakomben-Gebeinen entwickelte sich – die Schweizer Garde soll tatkräftig daran beteiligt gewesen sein.


Die Decke in der heutigen Kapelle stammt aus dem Jahre 1697

 

Victoria trifft in Ittingen ein

Auch die Kartause Ittingen schaffte sich wieder Reliquien an. So erwarb sie 1692 auf Vermittlung des Klosters Einsiedeln den Schädel der Victoria. Wer der Verstorbenen diesen Namen gab, ist unbekannt. Es gibt keine Überlieferung, keine Geschichte zu einer solchen frühchristlichen Märtyrerin. Auf dem Reliquiar (dem Schrein, in dem der Schädel aufbewahrt wird) wurde die lateinische Inschrift «Gloriose und unbesiegbare Märtyrerin Victoria» angebracht und 1697 eigens eine Kapelle zur Anbetung der Victoria errichtet. Wo genau in der Kartause sich diese befand, ist nicht bekannt. Die Decke in der heutigen Kapelle stammt aber noch aus dieser Zeit.

Auch Victoria musste übrigens Ittingen verlassen. Nach Aufhebung der Klöster 1848 durch den Kanton Thurgau kam die Reliquie in den Besitz der Kirchgemeinde Romanshorn. Erst viel später fand sie als Leihgabe den Weg zurück – ins Ittinger Museum.